Ängste im Garten?
Versuch über ein heikles Thema der Gartenkultur (Teil 2)

Text: Ludwig Fischer
Fotos: Ludwig Fischer und Angelika Traub

In Teil II seines Beitrags liefert Ludwig Fischer interessante Beispiele dafür, dass wir die Natur zwar niemals aussperren können, (auch dem Kontrollversessensten wird das nicht gelingen), es aber durch aufmerksames Beobachten, kluge Pflanzenwahl und manchmal sogar bewusstes Nicht-Eingreifen sehr wohl möglich ist, sich mit willensstarken »Mitgestaltern« wie Giersch oder Schachtelhalm ganz ohne Leid zu arrangieren. Auch Giersch findet zuweilen seinen Meister – und gibt uns die Chance zu lernen, dass ein veränderter Blickwinkel hilft, ihn neu zu betrachten:

Es lässt sich leicht über die von der Gartenindustrie beförderte Tendenz lästern, den Garten mit allen Mitteln zu einer naturfernen Sauberkeitsveranstaltung, einer grünen Erweiterung der mit womöglich spezifisch deutscher Gründlichkeit »ordentlich« gehaltenen Wohnung zu machen. Je mehr man einem »naturnahen« Gärtnern zuneigt, desto überlegener kann man den Rasen verspotten, der »mit der Nagelschere« beschnitten scheint. Aber man vergisst schnell, wo und wie man selbst vielleicht an dem teilhat, was nun einmal zum Gärtnern gehört: mit der Angst vor dem »Kontrollverlust«, oder anders: vor dem nicht beherrschten und letztlich auch nicht beherrschbaren Wirken der eigenmächtigen, selbsttätigen Natur.

Denn die »wilde Natur« ist in jedem Garten am Werk, ob wir wollen oder nicht – Gräser siedeln sich an und sind schnell zu großen Horsten oder sich ausbreitenden Bodendeckern herangewachsen; Unkräuter, pardon: unerwünschte Kräuter stellen sich überall ein, wie und woher auch immer; manche gepflanzte Staude verdrängt ihre Nachbarn oder mickert vor sich hin, anders als das Etikett es versprach; Maulwürfe und Wühlmäuse tun, was sie tun müssen, um zu überleben; Pilze und Viren setzen edlen Gewächsen zu; und so weiter und so fort.

Es fällt schwer, sich einzugestehen, dass Ängste vor solchem Naturgeschehen bei jedem Gärtnern mitspielen, stärker oder schwächer. Wir meinen weithin, in unseren technisierten Umgebungen bräuchten wir keine Angst mehr »vor der Natur« zu haben – nicht nur die Viren oder das Klimageschehen belehren uns, dass wir besser daran täten, uns nicht als die Herren über die Natur aufzuspielen. Viele, allzu viele Gärten zeugen von dem kulturellen Zwang, mit den raffinierten, technisch verfügbaren Mitteln den Naturgeschöpfen, den Pflanzen und Tieren und Pilzen und den Böden, ja den Mikroklimaten, dem Wasser, dem Licht, den Winden unseren Willen aufzuzwingen. Solch eine strenge, manchmal tatsächlich zwanghafte und regelrecht gewalttätige Beherrschung derjenigen Natur, die man gärtnerisch in Dienst genommen hat, verdeckt aber die menschheitsgeschichtlich uralte, begründete Angst vor der »wilden Natur«, die wir als ein evolutionäres, kulturell geformtes Erbe in uns tragen. Derlei Ängste sind nun mal die Kehrseite unserer in den westlichen Kulturen in den Exzess getriebenen Sucht, uns »die Natur untertan zu machen«, wie es vermeintlich einem biblischen Gebot entspricht und wie es die modernen Wissenschaften und die Technik zu ihrem Leitbild ausgerufen haben

Jan Wagners Gedicht kann man als eine untergründige Auseinandersetzung mit der Angst vor einer Übermacht der lebenskräftigen, eigenmächtigen Natur lesen, wie sie beispielhaft im Giersch Gestalt annehmen kann. Aber wie könnte man denn dem Giersch anders begegnen als mit dem gnadenlosen Willen, ihn aus dem Garten zu verbannen? Gibt es vielleicht ein friedliches Arrangement mit dem wuchernden, nicht zu bändigenden Kraut? Eine Art des gärtnerischen Einverständnisses mit dieser Pflanze, die im Frühjahr mit den jungen Blättern in einen erfrischenden Wildkräutersalat oder auch in eine grüne Suppe gehört?

Ich habe in einer mit hohen Eichen und Buchen bestandenen Ecke auf dem sehr großen Hofgrundstück, wo wir leben, ein Beispiel für solch ein Arrangement entdeckt, für eine »natürliche Regulation« des Gierschs: Der Boden ist, wie in einem lichten Wald, mit Efeu und Buschwindröschen und Einblatt und Scharbockskraut und Gundermann, hie und da mit Fingerhut, mit Knoblauchsrauke, mit Himmelsschlüsseln – und mit ein wenig Giersch bewachsen. Die übrigen Bodendecker halten das gefürchtete Kraut offenbar im Zaum, nirgends gelingt es dem Giersch, flächendeckend alle Nachbarn zu überwuchern.

Solche »Balance« lässt sich im Garten nur schwer herstellen, aber mit einiger Überlegung und mit viel Ausprobieren – das sind Tugenden des »naturfreundlichen Gärtnerns« – kann es gelingen, wenn man denn will. Es gibt Geranium-Arten bzw. –sorten, die es sogar dem Giersch schwer machen. Kriechender Beinwell oder eben Efeu oder manche Epimedium-Sorten bilden im Verein mit weiteren Bodendeckern wie Waldsteinie oder Falscher Alraunwurzel (Tellima grandiflora) im lichten Schatten dichte Teppiche, die der Giersch nicht überwältigt. Man braucht dazu geeignete Standorte und etwas größere Flächen, aber dann müsste man keine Angst mehr vorm Giersch haben, man könnte freundlich mit ihm umgehen – und auch etwas ernten.

Was für den Giersch gilt, lässt sich ähnlich sogar von einem der stärksten, schier unbezwingbaren Wucherer im Garten sagen, dem Ackerschachtelhalm. Er zwängt sich beinahe durch jeden Boden und jede Spalte, schlängelt sich unter jeder Abdeckung fort, treibt aus jedem Schnipsel wieder aus, senkt seine Wuchszentren bis in 1,50 Meter Tiefe hinab, kann seine filigranen Wedel zu dichten Büscheln bündeln. Bei mir wurde er mit dem Lehm für den Gartenteich eingeschleppt. Als ich bemerkte, was ich da geschenkt bekommen hatte, war es längst zu spät, die unterirdischen Schnüre konnte ich nicht mehr vollständig ausgraben. So musste ich erdulden, dass der Schachtelhalm immer weitere Bereiche des Garten durchdrang, so viele Büschel ich auch ausriss. Ich ergab mich und raufte nur noch aus, was meine Gartenflora zu sehr bedrängte. Jetzt stelle ich überrascht fest, dass nicht nur in dem großen Beet mit den »Liebhabern des Halbschattens« der Schachtelhalm fast ganz verschwunden ist, als sei ihm einfach die Kraft ausgegangen. Wahrscheinlich aber haben die Bodendecker, die zu dichten Beständen herangewachsen sind, ihm das Wuchern zu schwer gemacht – der Turiner Waldmeister und die Stinkende Nieswurz (Helleborus foetidus), die sich stark ausgesät hat, sind zu zauberhaften Teppichen verwebt, aus denen sich kaum noch ein Schachtelhalm hervordrängt.

Dieser Vorgang lehrt mich nicht nur, immer wieder auf das »natürliche Wirkgefüge« zu vertrauen, in dem sich unerwartete Regulationen einstellen können. Sondern ich habe auch gelernt, dass ich die meisten Veränderungen im Garten, die ‚von selbst' geschehen, nicht nur hinnehmen sollte, sondern dass ich ihnen vertrauen darf, auch wenn ich sie nie und nimmer erwartet hatte. Der Turiner Waldmeister hat sich mit dem benachbarten einheimischen Waldmeister, mit Gräsern und Farnen arrangiert, er kann es verkraften, dass sich die Nieswurz mit den schönen Palmwedeln ausbreitet. Und ich muss akzeptieren, dass einige hohe Stauden wie die dunkellaubige Silberkerze (Cimicifugia racemosa 'Atropurpurea') schwer gegen den Filz der Bodendecker ankommen. Das Halbschattenbeet sieht inzwischen anders aus, als es einmal angelegt war, aber es ist nicht weniger vielgestaltig, interessant und lehrreich – und es wird auch nicht so bleiben, wie es jetzt ist. Wollte ich mit harten Eingriffen und ständigem Regulieren das Gartenstück in seiner anfänglichen Gestalt »fixieren«, hätte ich nicht nur sehr viel Arbeit, sondern würde mich auch um die spannendsten Erfahrungen bringen.

Angst, Zwang, Herrschaftswillen sind schlechte Ratgeber im Garten – ebenso wie Desinteresse am Natürlichen und der schnelle Griff zum Industrieprodukt. Aufmerksamkeit, Hinwendung zur »freien« Natur können Inspiration geben für ein sozusagen freundschaftliches, kluges und entspannteres Verhältnis zu den Naturprozessen und Naturgeschöpfen im Garten. Immer bleibt der Garten eine von Menschen arrangierte, eine »kultivierte« Natur, die ohne einigen Arbeitsaufwand nicht zu haben ist. Aber es gibt bessere, in jeder Hinsicht verträglichere Arrangements als die mit Anstrengung, ja mit »G'walttat« (wie die Schwaben sagen) »schön« oder »sauber« oder »ordentlich« gemachten Gärten eines vorgeblichen »Triumphs über die ungebändigte Natur«. Diese Natur macht uns zum Beispiel vor, wie man selbst den Giersch in den Garten einladen könnte.

 

Ludwig Fischer
Garten und Literatur Bis Ende 2017 berichtete Ludwig Fischer aus seinem großen Kräuter-Schaugarten in Benkel nahe Bremen, von dem er Abschied nahm, um sich von nun an stärker aufs Schreiben zu konzentrieren.
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Text: Ludwig Fischer
Fotos: Ludwig Fischer und Angelika Traub