Eine Tomate namens 'Heterosis'

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Die F1-Tüten nehmen zu. Ihr Versprechen: sichere und hohe Erträge. Wer will das nicht? Was aber bedeutet F1? F hat eine längere Geschichte. F steht für Filia, zu Deutsch: Tochter. Es handelt sich also in den Tüten um eine Tochter-Generation. Dabei ist natürlich jedes Saatgut eine Tochter-Generation. Bei F1 aber handelt es sich um Töchter, die aus einer Kreuzung hervorgegangen sind.

Wie funktioniert denn das? Bei einer Kreuzung entstehen doch normaler Weise stark variierende Individuen, aus denen der Züchter gewünschte Pflanzen auswählt und zu vermehren versucht. Und bei F1 sind die Töchter alle einheitlich?

Wenn die genetische Forschung auch in Riesenschritten vorangekommen ist, im Hintergrund steht noch immer der Augustiner-Mönch Gregor Mendel. Der Bauernsohn lebte von 1822 bis 1884, wurde später sogar Abt seines Klosters in Altbrünn in Mähren. Er war ein Naturwissenschaftler in Mönchskutte. Im Klostergarten erforschte er die Weitergabe von Erbeigenschaften bei Pflanzen. Sein wichtigstes Forschungsobjekt waren Erbsen, von denen es Mitte des 19. Jahrhunderts offenbar viel mehr Sorten gab als heute. Er suchte reinerbige Stämme, die sich nur durch wenige Merkmale unterschieden, bestäubte sie, schloss Selbst- oder Fremdbestäubung aus, experimentierte mit großen Versuchsreihen und wertete schließlich alles statistisch aus. Kurz: er arbeitete nach wissenschaftlichen Grundsätzen.

Er schrieb 1866: "Aus mehreren Samenhandlungen wurden im ganzen 34 mehr oder weniger verschiedene Erbsensorten bezogen und einer zweijährigen Probe unterworfen. Für die Befruchtung wurden 22 davon ausgewählt und jährlich während der ganzen Versuchsdauer angebaut." Er arbeitete daran von 1854 bis 1866. Dann veröffentlichte er seine Erkenntnisse unter dem Titel "Versuche über Pflanzenhybriden". Inhalt der Schrift: Die Mendelschen Regeln. Sie beschreiben den Vererbungsvorgang von bestimmten Merkmalen über mehrere Generationen. Ein Beispiel: Zwei Erbsensorten unterscheiden sich nur in einer Eigenschaft, z.B. bei den Blüten. Eine blüht rot, die andere Weiß. Die Tochter-Generation (F1) blüht einheitlich rot! (Entdeckung der Dominanz!) Die nächste Generation (F2) blüht gemischt: rot, rosa und weiß. Mendel hatte entdeckt, dass es in den Pflanzen Partikel gibt, die weitergegeben und neu kombiniert werden. Heute spricht man von Chromosomen und von Genen. Doch Mendel wurde wegen seiner Erkenntnisse nicht nur angefeindet, sondern auch vergessen. Sein letztes wissenschaftliches Werk erschien 1869: "Über einige aus künstlicher Befruchtung gewonnene Hieratium-Bastarde".

Manchmal kommt es zu erstaunlichen "Kreuzungen" menschlicher Wege. 1843 wurde in Erfurt die "Ernst Benary Samenzucht für Gartensämereien und Pflanzen" gegründet. Es erwies sich als sehr erfolgreiches und Neuem aufgeschlossenes Unternehmen. Auch bei Benary wurde gekreuzt. Schon 1859 entstand eine Lichtnelken-Artkreuzung, die Lychnis Haageana-Hybriden. (Bei Haage in Erfurt hatte Ernst Benary die Gärtnerei erlernt)

1873 war Gregor Mendel Kunde bei Benary. Es heißt zwar, er habe Erbsensaatgut für seine Versuche erworben, die aber waren ja 1866 bereits abgeschlossen. Doch Mendel hat mit vielen weiteren Arten gearbeitet, wie Levkojen, Akeleien, Linaria, Mirabilis und Löwenmaul. Wir wissen nicht, was für Sämereien er eingekauft hat und ob es einen Gedankenaustausch gab. Wir wissen nur, dass Mendel als Kunde in den Annalen vermerkt ist. Auf jeden Fall wurden von Benary neue wissenschaftliche Erkenntnisse begierig aufgenommen. Wie anders soll man erklären, wieso die Erfurter schon Anfang des 20. Jahrhunderts erste F1-Züchtungen herausbrachten? 1909 die erste F1-Hybride: Begonia semperflorens "Primadonna". 1927: Die erste F1 Tomate der Welt entsteht mit dem beziehungsreichen Namen "Heterosis".

Und damit kommen wir zum Kern der F1-Züchtung und finden zugleich wieder zu Gregor Mendel. Zwei wissenschaftliche Erkenntnisse kommen zusammen: Die erste Mendelsche Regel, Uniformitätsregel genannt und der Heterosiseffekt. Die Uniformitätsregel sagt, dass die Töchter reinerbiger Sorten, die sich nur in wenigen Merkmalen unterscheiden, einheitlich, uniform ausfallen. Die Heterosis ist eine natürliche Erscheinung. Stoßen isoliert lebende Inzuchtpopulationen aufeinander, kann es zu einer enormen Steigerung der Wuchskraft und Vialität führen. Oder ein anderes Beispiel, Rassehunde. Bei ihnen stellen sich häufig Erbkrankheiten ein, die sich bei der Inzucht immer derselben Rasse noch verstärken. Kreuzte man zwei solcher Inzuchtlinien, gäbe es gesunde Hunde. Bestes Beispiel sind die vitalen Promenadenrassen.

Derartige Inzuchtlinien werden auch von den Züchtern und Saatgutproduzenten aufgebaut. Sie sind die Ausgangsbasis zur Erzeugung von F1-Saatgut. Das F1-Saatgut kombiniert nicht nur verschiedene Eigenschaften der Elternlinien. Deren Kreuzung bewirkt auch eine erhebliche Leistungssteigerung (Promenadenrasseneffekt) und manchmal die Entstehung von Resistenzen.

Nun ist es freilich einfach, getrenntgeschlechtliche Pflanzen von Hand zu bestäuben. Kürbisse zum Beispiel. Die bestäubten Blüten werden eingetütet, um eine weitere Bestäubung zu verhindern. Kompliziert wird es bei zwittrigen Blüten. Bei ihnen müssen die Pollen entfernt werden um die Selbstbestäubung auszuschließen. Was aber bei Einzelpflanzen durchaus praktikabel ist, versagt bei der Erzeugung großer Mengen von F1-Saatgut. Zur Erklärung: Die Rapslinie A und die Linie B werden nebeneinander angebaut. Von der Linie A soll F1-Saat geerntet werden. Um die Bestäubung der Linie A mit eigenem Pollen zu verhindern, müssten die Blüten kastriert oder die Pollen auf anderem Wege unschädlich gemacht werden. Dieser andere Weg ist die CMS-Technik. Englisch: Cytoplasmatic male sterility. Zu Deutsch: Cytoplasmatische männliche Sterilität. Sie kommt bei diversen Pflanzenarten in der Natur vor und wird von den F1-Produzenten in die Mutterlinien manipuliert. Entweder durch klassische Zuchtmethoden oder moderner durch Zellfusion (nicht zu verwechseln mit Gentechnik).

Ein komplizierter und teurer Weg, der sich nur bei hohen Umsätzen lohnt. Diese Umsätze aber sind garantiert. Denn F1-Saatgut spaltet nach der Mendelschen Regel Nr. 2 wieder. Mit anderen Worten, es kann nicht nachgebaut werden. Hat sich ein Bauer auf Hybridsaatgut eingelassen, dann muss er jährlich neues Saatgut kaufen.

So faszinierend die wissenschaftliche Seite der F1-Saatgutproduktion ist, die Folgen sind zum Teil erschreckend. So aufwändige und teure Verfahren können nur von den größten Unternehmen entwickelt werden. Das bedeutet, dass die Saatguterzeugung immer mehr konzentriert wird. Das führt dazu, dass immer weniger Sorten angeboten werden. Das Schlimmste aber ist der weltweite Verlust alter, sehr sicherer Landsorten. Verführung durch einmalig hohe Erträge werden so manche alte Reis- oder Hirsesorten verschwinden lassen, die ganze Weltregionen über Jahrtausende ernährt haben. Die Bauern aber geraten in immer größere F1-Abhängigkeit, kombiniert mit einer verheerenden Abhängigkeit vom chemischen Pflanzenschutz.

Christian Seiffert
aus Jamlitz und Eresing Seit 2001 experimentiert Christian Seiffert parallel in zwei geographisch weit auseinanderliegenden Gärten: in Oberbayern und in der Niederlausitz, im Land Brandenburg.
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Text und Fotos: Christian Seiffert