East Anglia – ein Geheimtipp für Gartenfreunde

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Als langjährige Reiseleiterin kenne ich vom Süden bis in den Norden Großbritanniens so gut wie alle Reiseziele, die für gartenbegeisterte Menschen von Interesse sind. Aber eine meiner liebsten Regionen ist auch gleichzeitig eine der unbekanntesten: Mit pastoralen Landschaften, zeitgenössischen Gärten und Kultur überrascht East Anglia, der weitgehend unbekannte Osten Englands. Die Schönheit dieser Landschaft trumpft nie auf, sondern hält sich zurück im Understatement des Unspektakulären – so beschreibt der Journalist Peter Sager die Halbinsel nordöstlich von London, die Grafschaften am Meer: Essex, Suffolk und Norfolk.

Das Wasser prägt East Anglia. Die Sand- und Kiesstrände der Nordseeküste, Salzmarschen, tief ins Land reichende Gezeitenmündungen der Flüsse, Seen der Fens (Feuchtgebiete), Windmühlen, Leuchttürme und abgelegenen Küstenorte. Weite Getreidefelder und Gemüseäcker, Dörfer und Herrenhäuser, kleine Wälder und die lachsrosa Cottages im typischen East Anglian Pink machen die friedliche Landschaft aus. Inbegriff der englischen Countryside.

Gärten der Zukunft! Kiesgärten, Wild Wood & Big Sky Meadows

East Anglia zählt mit 1450 – 1550 Sonnenstunden im Jahr bei geringen Regenfällen von meist weniger als 700 Millimetern zu den trockensten, wärmsten und sonnigsten Regionen Englands.

In Elmstead Market erinnert Beth Chatto’s Plants & Gardens an die einflussreiche Gärtnerin Beth Chatto (1923-2018), die vor allem mit ihrem innovativen Kiesgarten für trockenheitsliebende Pflanzen ein wegweisendes Beispiel zeitgenössischer Pflanzenverwendung gibt. Auf einem schwierigen Stück Land mit trockenem Sand und Kies, einer Senke mit feuchtem Lehm sowie trockenen Schattenplätzen unter Eichen entwickelte sie das Prinzip des standortgerechten Gärtnerns »right plants for right places« (richtige Pflanzen für passende Standorte), den erfolgreichen Leitfaden für ihren trockenen Kiesgarten, den feuchten Teich- und den schattigen Waldgarten. Ihre Art der Gartengestaltung eröffnete vielen Gärtnern eine völlig neue Sichtweise.

In Essex liegt auch der RHS Garden Hyde Hall, von weitem sichtbar auf einem Hügel inmitten der Getreidefelder East Anglias. Ein Baumgürtel hält die stürmischen Nordseewinde ab und vermindert die Austrocknung der Böden. Die Royal Horticultural Society (RHS) gestaltete hier schon 1993 einen Dry Garden (Trockengarten) mit trockenheitsverträglichen Pflanzenarten. Der Schaugarten der Nachhaltigkeit (model of sustainabitity) demonstriert, dass dauerhafte Pflanzungen durch die richtige Pflanzenauswahl ohne künstliche Bewässerung möglich sind.

Mit der Pflanzung eines Wild Wood aus 50.000 heimischen Gehölzen fördert die RHS die Biodiversität und setzt ein Zeichen für bedrohte Pflanzen und Tiere. Wegweisende Projekte sind der Gemüsegarten der Welt Global Vegetable Garden (2017) und eine 20 Hektar (!) große Blumenwiese Big Sky Meadows (2019).

Dörfer, Marktstädte, Bell Ringing, Safran und Cambridge

Auf schmalen Landstraßen tauchen Anglophile in die oft als pastorale Kulturlandschaft beschriebene Idylle ein. Die Landpartie verläuft durch kleine charmante Dörfer. An blühende Safranfelder und lebendige Markttage noch Anfang des 20. Jahrhunderts erinnert die Krokusblüte (Crocus sativus) im Stadtwappen von Saffron Walden. Im Marktstädtchen überraschen die öffentlichen (!), viktorianischen Bridge End Gardens und die Gemeindewiese mit einem uralten Rasenlabyrinth. Am Stadtrand liegt das Herrenhaus Audley End House mit Landschaftsgarten von Lancelot Capability Brown.

Ein Highlight ist der Besuch der 800-jährigen Universitätsstadt Cambridge. Im 1760 gegründeten Cambridge University Botanic Garden entdecken Gartenliebhaber Pflanzen aus der ganzen Welt. Sein berühmter Winter Walk hat Modellcharakter und inspirierte den National Trust in Anglesey Abbey Gardens zu einem 1,6 Kilometer langen Winter Walk mit Schneeglöckchen-Sammlung. Im Sommer lockt das Open-Air Shakespeare-Festival in die Collegehöfe und -gärten. Eine Führung durch die Colleges mit ihren Bibliotheken, Speisesälen und Kapellen ermöglicht Einblicke in das Universitätsleben und versteckte Cambridge College Gardens wie Emmanuel College Gardens, Christ’s College Gardens oder Clare College Fellows Gardens mit Teich, Duftgarten, viktorianischem Subtropengarten und edlem Baumbestand.

Wool Towns, Herrenhaus-Gärten und das Aldeburgh Music Festival

Auf dem Weg Richtung Meer ragen Kirchtürme aus Kornfeldern empor. Suffolks zahlreiche Kirchen, die wool churches, gehen zumeist auf Stiftungen reicher Wollhändler des Mittelalters zurück. Einsame Marschwiesen, Seen und Flüsse prägen The Broads, Englands größtes Feuchtgebiet. Gartenfreunde besuchen den nahen privaten Landsitz Somerleyton Hall, wandeln durch Ballsaal, Bibliothek und Gärten mit historischen Gewächshäusern.

Alte Eichen säumen die Zufahrt durch den Rotwildpark von Helmingham Hall. Im Wassergraben spiegelt sich die fein gemusterte Ziegelsteinfassade dieses Tudor-Herrenhauses. Nach mehr als 500 Jahren und 19 Generationen direkter Nachfolge ist es noch heute im Besitz der Familie Tollmache. Sehenswert sind Knotengarten, Rosengarten und der Küchengarten. Formalen Gestaltungselementen stehen wilde Blumenwiesen und lokale Apfelsorten im Apple Tree Walk gegenüber. Ein besonderes Anliegen ist der Schutz der Insekten und Vögel auf den Wildlife Areas.

Auf schmalen, mit Hecken gesäumten Landstraßen durch altes Farmland geht nach Wyken Hall. Seltene Schafrassen grasen rund um das Landhaus im traditionellen Suffolk Pink. Im Obstgarten tummeln sich Perlhühner und schwarze Norfolk-Truthähne. Sir Kenneth und Lady Carla Carlisle pflegen hier einen Landhausgarten, betreiben Weinbau und das  erlesene Wyken Vineyards Restaurant »The Leaping Hare«.

Meeresspargel, wehende Staudenwiesen und Exoten

Der endlose Himmel über weiten Stränden und sandigen Dünen haben auch in Norfolk einen fesselnden Reiz. Auf den Salzwiesen wächst die Spezialität samphire (wir kennen ihn als Queller, Salicornia europaea), auch »Meeresspargel« genannt. Küstennah liegen Herrenhäuser wie Sandringham House, der elegante Landsitz der verstorbenen Queen Elizabeth II. und bekannte Gärtnereien wie Peter Beales Roses oder Norfolk Lavender. Im Penthorpe Millenium Garden gestaltete Piet Oudolf eine Staudenwiese für das 21. Jahrhundert und East Ruston Old Vicarage ist einer der größten privaten Gärten mit einer exotischen Pflanzenwelt.

Wiederentdeckung der alten Küchengärten

Auch die Landsitze Houghton Hall oder Felbrigg Hall führen ihre alten ummauerten Küchengärten mit neuen Ideen und Gestaltungen in die Moderne. 2001 hat Susan Campbell als Co-Gründerin das Walled Kitchen Garden Network zur Wiederbelebung der alten vergessenen Gartenkultur ins Leben gerufen. Das Netzwerk trägt dazu bei, dass sich die rekonstruierten Lost Gardens durch eine zeitgemäße Ausrichtung und traditionelle Produktivität wieder zu Orten großer Schönheit und Anziehungskraft, auch für die junge Generation, entwickeln.

Anreise

Sehr entspannt reist man mit der Nachfähre von Hoek van Holland bei Rotterdam nach Harwich mit der Stena Line. Eine Alterative ist die Flugreise, dann wählt man am besten den Flughafen Stansted Airport südöstlich von Cambridge.

Zur Geschichte East Anglias

Nach dem Rückzug der Römer aus Britannien gründeten Einwanderer aus Ostangeln, dem heutigen Dänemark, im 6. Jahrhundert das Königreich East Anglia. Zu den ursprünglichen Kerngrafschaften der Region, Suffolk und Norfolk, zählt heute neben Essex meist auch der östliche Teil von Cambridgeshire.

East Anglia liegt abseits der zentralen Nord-Süd-Routen, ohne Autobahnen, aber vielen Landstraßen. Bevor die Feuchtgebiete (Fens) entwässert und die Wälder von Essex gerodet wurden, war der erst Mitte des 19. Jahrhundert durch die Eisenbahn erschlossene Landstrich weitgehend abgeschieden vom übrigen England.



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ISBN: 978-3-7667-2509-7


Text und Fotos: Anja Birne