Dürre und wenn Staunen auf Staunen folgt
Ein Beitrag von Stefan LeppertMitte August, inmitten der grassierenden Dürre, wurde ein Abend im Schrebergarten ein Abend zum Staunen, mehrfach und diesem Staunen folgte später wiederum Staunen. Ob es Stunden, Tage, Zeiten gibt, in denen man besser staunen kann als an anderen, in denen sich das Unterbewusstsein geradezu nach Staunenswertem sehnt? Sind Momente der Bedrängnis, Extremereignisse wie Dürre zum Beispiel, vielleicht solche Zeiten?
Mein Staunen trug sich nicht auf unserer eigenen Parzelle zu, sondern in einer Nachbaranlage. Dort zählt der Künstler Wilm Weppelmann zu jenen Günstlingen in der Coronakrise, die ein Gärtchen haben und keines suchen. Die Nachfrage in den 58 Vereinen des Stadtverbandes Münster ist schon seit etlichen Jahren gewachsen, in diesem Jahr ist sie allerdings nochmal sprunghaft angestiegen. Weppelmann veranstaltet seit 15 Jahren auf seiner Parzelle die „Freie Gartenakademie", eine in den drei Sommermonaten stattfindende Veranstaltungsreihe. Kultur- und Kunstschaffende diverser Richtungen kommen aus ganz Deutschland und vereinzelt aus dem Ausland angereist und treten zwischen Laube und Gemüseacker und vor durchschnittlich 60 Zuschauern und Zuhörern auf. In diesem Jahr ist aber alles anders. Die viruelle Bedrohung zwang Weppelmann, die nur noch erlaubten 15 Zuschauer auf den Weg der Anlage zu verbannen, also hinter seine hüfthohe Hecke zu sperren, über die sie auf die Bühne schauen können, die wiederum heuer nicht hinten auf dem Rasen an der Laube steht, sondern vorne über abgeerntetem Gemüse. Ich hatte einen Extraplatz ergattert und wurde ausnahmsweise direkt vor der Hecke auf einen Stuhl gesetzt. Und jetzt zum Staunen.
Mein Stuhl stand auf einem schmalen Parzellenweg, direkt vor mir durchkreuzte eine fast verblühte, kindshohe Nachtkerze den Blick, Oenothera biennis. Hinter der Bühne im Gemüsebeet reckte sich stolz eine mehrstämmige Stockrose gen Himmel. Sie trotzten der Dürre, auch für Helianthus und Miscanthus war die Trockenheit o.k., aber ansonsten herrschten vorwiegend traurige Zustände. In die Melancholie der ächzenden Abendschwüle hinein drangen dann die Stimmen der münsteraner Kunstschaffenden Gabriele Brüning und Manfred Kerklau. Sie trugen Briefpassagen von Rosa Luxemburg vor. Im Vorgriff auf den 150. Geburtstag im kommenden Jahr ehrten sie die Sozialistin auf seltsame Art, denn sie lasen Abschnitte vor, die sich vorwiegend auf floristische und faunistische Beobachtungen stützten – kaum ein Wort über Politik, Kriegstreiben, Sozialismus, gesellschaftliche Ideale. Ich staunte. Die Naturverbundenheit Luxemburgs verblüffte mich, das Bekenntnis, dass sie sich einer Kohlmeise verbundener fühlte als irgendeinem Menschen, haute mich fast um.
Als ich still in mich hinein murmelte, aus Rosa Luxemburgs Briefen mögen bitte nie zweizeilige Plattitüden auf 365-Tage-Klappbüchern auftauchen, stellte ich die Vortragenden auf unscharf, und die vor mir aufragende Nachtkerze wurde in ihrer ganzen ungelenken Gestalt scharf. Sie schien mich anzuschauen, als sei sie die Rosa Luxemburg in Weppelmanns Pflanzengalerie. Alles andere wurde gegossen, nur sie bekam keinen Tropfen Gießwasser ab. Alles andere von nennenswertem Habitus wurde von Unkraut befreit, nur sie stand im Verbund mit Franzosenkraut und Berufkraut, als sei sie selbst Unkraut. Stockrosen spricht man Zierwert zu, sie stehen im Staudenkatalog, von Oenothera biennis schwärmt niemand, nur Spezialgärtnereien bieten Samentütchen an. Aber sie stand aufrecht da, als würde sie sich mit Wasser und Brot und Meisengesang begnügen. Und wie ich so hinsah auf die spärlichen Blüten, betrachtete ich die Pflanze genauer, das heißt, ich begann zu zählen – Samenkapseln. Ohren und Augen waren auf dem gleichen Weg, Hören und Sehen durchkreuzten einander nicht, die Worte Luxemburgs über den tröstenden Meisengesang im Gefängnishof waren die Untermalung für das Bild einer schief und krumm dastehenden Pflanzengestalt, die mich in dem Moment tröstete. Der Trost war nicht Schönheit und nicht Duft, er bestand aus drei Zahlen und einem Ergebnis: 4 x 190 x 60 = 45.600! Diese eine Nachtkerze bringt es an vier Grundtrieben auf 190 Samenkapseln, in denen im Schnitt 60 kleine Samen lagern. Nach der Veranstaltung zählte ich die Samenkapseln der Stockrose und staunte auch hier über den überwältigenden Vorrat, aus dem sich die Natur immer wieder erneuert. Kein Wort hatte Luxemburg über die Nachtkerze verloren, dennoch verbanden sich die beiden Gestalten in meiner Wahrnehmung - und vermutlich nur in meiner – miteinander, durch ihre traurige, aber aufrechte Haltung und durch ihre Vorräte, an Samen und trostspendenden Gedanken.
Seltsam mobilisiert von der Lesung besorgte ich mir das Buch. Wenige Tage später versetzten mich ein paar Briefzeilen, die Luxemburg am 2. Mai 1917 aus dem Gefängnis in Wronki geschrieben hatte, erneut in Erstaunen: „Gestern las ich gerade über die Ursache des Schwindens der Singvögel in Deutschland. Es ist die zunehmende rationelle Forstkultur, Gartenkultur und der Ackerbau, die ihnen alle natürlichen Nist- und Nahrungsbedingungen: hohle Bäume, Ödland, Gestrüpp, welkes Laub auf dem Gartenboden – Schritt für Schritt vernichten." Vor über einhundert Jahren schon hatte man das in den Zeitschriften lesen können. Wieder war ich verblüfft, hatte ich doch den Beginn der Diskussionen über Vögel- und Insektensterben auf 1962 gesetzt, als Rachel Carson ihren „Stummen Frühling" herausgebracht hatte. Das Vogelsterben, sprich das Insektensterben, hatte offenbar schon weit vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges begonnen. Da saß ich nun, die 45.600 Samen vor dem geistigen Auge, überlagert von den schockierenden Beobachtungen der Singvogeldichte aus dem Jahr 1917.
Ein paar Tage später traf ich Raimund, einen pensionierten Pädagogen, der seinen Schrebergarten von seiner Gattin pflegen lässt, während er liest, am Rotwein nippt oder Salatsoße anrührt. Ein Lebemann, immer mit Strohhut bedeckt und viel zu weiter heller Leinenhose mit schwarzem Gürtel gekleidet. Ich erzählte ihm von dem Abend bei Wilm Weppelmann und von der erschütternden Beobachtung Luxemburgs zum Raubbau an der Kulturlandschaft. Raimund verarbeitete das ganz anders und reagierte, wie ich es nicht erwartet hatte. Gedanken wie: Wie lange muss das noch gehen, bis endlich umgesteuert wird? lagen ihm fern. „Das macht irgendwie Hoffnung", sagte er. „Vogelsterben schon seit über hundert Jahren und es sind immer noch welche da." Ich staunte nochmal, sagte nichts und ließ ihn achselzuckend stehen. Als erstes ging ich in unser Gärtchen, stieg auf die Leiter und sah in einem der Nistkästen nach. Es waren Spuren erfolgreicher Jungvogelaufzucht zu erkennen, jedenfalls keine kleinen Skelette, wie ich von jemand anderem gehört hatte.
Vielleicht sollte man das alles so sehen wie Raimund, dachte ich, an die 45.600 glauben, an die Unermüdlichkeit der Natur und an die unkalkulierbaren Begegnungen – mit Wilm Weppelmann, Rosa Luxemburg, Raimund und morgen mit jemand anderem. Und dann zählte ich Samen, von Nachtkerzen, Stockrosen und Kornrade, die giftig und wunderschön ist – und sehr selten geworden ist. Aber lassen wir das jetzt. Dürre reicht.
Text und Fotos: Stefan Leppert