Schöne Folgen des Uraltseins

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Das Gärtnern in Schrebergartenvereinen hat bekanntermaßen Vor- und Nachteile. Nicht vergessen werde ich einen Nachteil, den vor Jahren eine ältere Dame meinte ausgemacht zu haben, die mit einer Reisegruppe zu Gast in unserer Anlage war. »Aber Ihnen gehört hier ja nichts«, sagte sie mit Leidensmiene, »der nach Ihnen kommt, wird sich freuen!« In ihrem zweiten Satz versteckte sie, vermutlich ohne es zu merken, gleich zwei positive Aspekte. Zu allererst ist Freude immer etwas Schönes und zweitens ist noch wichtiger: Es kommt jemand nach mir und macht weiter. Wir wollen hier nicht der philosophischen Frage nachgehen, was uns wirklich gehört auf diesem Erdball und ob nicht Pachten oft entspannender ist als Besitzen. Was ich persönlich bewusst genieße, ist das beruhigende Gefühl, dass es in einem Kleingartenverein immer weitergeht – zumindest so lange, wie das Kleingartengesetz gilt und es Nachfrage nach Schrebergärten gibt, wovon nach derzeitigem Stand auszugehen ist. Wer viel in Gärten unterwegs ist, hat mit mir oft das schockierende Erlebnis geteilt, dass ein offener und zudem hochinteressanter Garten von einem Tag auf den nächsten geschlossen ist und nicht selten verkommt.

In unserer Anlage ist gegenwärtig das Phänomen zu beobachten, dass es immer weitergeht und Altsein nicht zwangsläufig dazu führt, dass ein Garten zur verunkrauteten Wüstenei wird, auf die dann eine Garage gestellt wird. Interessant ist das, was auf unserer Gartenparzelle 11 zurzeit vor sich geht, und zwar in zweierlei Hinsicht. Der Pächter ist Rütger Rehm, unser ältestes Mitglied. Er zählt 93 Lenze und war bis zum Frühjahr letztens Jahres vom optischen Erscheinungsbild seines Garten her der eifrigste Gärtner. Hinten die Hütte, davor nur blanke Fläche für Gemüse, zwischen zwei Längswegen Richtung Hütte ein schmales Beet für Blumen, das war's. Nach dem Tod seiner Frau radelte er jeden Morgen in den Dom, bei Wind und Wetter, Eis und Schnee. Durch einen Sturz im vorvergangenen Winter nahm seine Hüfte Schaden, was ihn aber nicht daran hinderte, vergleichsweise kurz danach wieder auf den Drahtesel zu steigen. Dann erwischte ihn das Corona-Virus und legte ihn mit einer Lungenentzündung lahm. Auch das meisterte er, allerdings berichten seine Kinder, dass er nun etwas verwirrt sei und sich nicht mehr in den Garten traut. Alles sei bestimmt verunkrautet.

An dem Punkt lohnt es sich nun wirklich, über den Begriff des Unkrauts nachzudenken. Vorweg soll noch erwähnt werden, dass Gartenfreunde von gegenüber, von rechts und links seiner Parzelle das Gröbste ausgerissen und die Erdwege freigemacht haben, damit der alte Herr ohne zu stolpern zu seiner Laube kommt und sich von seinem Bänkchen aus die Bescherung ansehen kann. Vor seiner Bank wurden ein paar Reihen dekoratives Gemüse gepflanzt, um bei ihm den Eindruck zu erwecken, alles ginge immer weiter. Aber ich sprach von Bescherung.

Da der gute Herr Rehm seit 1970 auf seiner großen Gemüsefläche nicht ein einziges Unkraut geduldet hat (dabei nie Gift spritzte), spross im Frühling so gut wie nichts, was in allen anderen Gärten längst da war. Franzosenkraut, Quecke, Einjähriges Berufkraut, Giersch, keine Spur davon auf Parzelle 11. Was die Fläche dann grün färbte, war Klatschmohn (wie überall) und ein Kraut, das mir unbekannt war. Wir hatten beschlossen, dem alten Herrn nur die Wege freizujäten und auf den Beeten erstmal alles wachsen zu lassen, es sei denn, es ist lästiges Kraut, das niemand haben will. Ende Mai, Anfang Juni rieben sich dann alle, die an Herrn Rehms Garten vorbei gingen, die Augen, meine Wenigkeit inbegriffen. Wir kamen am 9. Juni aus dem Urlaub zurück, und der gesamte ehemalige Gemüseacker war übersät mit etwa ein Meter hohen Pflanzen, die vorwiegend blau und vereinzelt weiß und rosa blühten. Dazwischen poppte knallrot Mohn ins Bild. Ohne dass Herr Rehm oder sonst jemand auch nur einen Finger gerührt hatte, war fast von einem Tag auf den anderen ein irres Farbspektakel entstanden, von Wind, Ameisen, Insekten und Vögeln angelegt. Einen Monat später war das Farbspektrum dann dabei, von blau/rosa/weiß auf warme Töne zu wechseln. Was war geschehen?

Gartenfreund Rehm hatte nie wirkliches Interesse an Zierpflanzen gehabt, die Auswahl auf seinem schmalen Mittelstreifen zwischen den beiden Wegen ist überschaubar und mit einem alten Sortiment bestückt. Phlox, Schleierkraut, Astern, eine Pfingstrose. Nicht nur alt, auch sondern altmodisch bestimmen machen dann großblütige Rudbeckien das Beet, Sorten mit meist zweifarbigen Blütenblättern, gelb, orange, rot, braun, in Eigenregie munter neue Sorten bildend. Nur Gartenfreunde, die alles, was sie geschenkt bekommen, auch pflanzen, haben solche diese Pflanzen. Jedenfalls müssen zwischen alldem ein paar einjährige Ritterspornpflanzen gewachsen sein, die Rehm in dem Streifen gelassen und auf dem Gemüseacker immer ausgerissen hatte. Es handelt sich hier um den Gartenrittersporn Consolida ajacis, der zwischen 50 und 120 Zentimeter hoch wird. Da sich auf unserem Sandboden alles Mögliche aussät, war es auch für den einjährigen Rittersporn kein Problem, er schien geradezu darauf gewartet zu haben, dass ein Gärtner auf dem Weg zum Dom vom Fahrrad fällt. Von einem Jahr auf das nächste sind nun aus zwei, drei Pflanzen einhundert oder zweihundert geworden, großartig – auch deshalb, weil sie durch ihre einstängelige Gestalt nur blühend auffallen und danach sang- und klanglos verschwinden.

Weil unser Methusalem unabhängig vom Pflegezustand seines Gartens im Verein bleiben darf, sind nach Rittersporn und Rudbeckien nun auch Pläne gekeimt, wie man künftig mit seinem Garten umgehen sollte. In Fällen wie diesen setzen sich zum Beispiel schnell Pächter in Richtung Vorstand in Bewegung, um sich als Interimsnutzer mit Setzkartoffeln oder ähnlichem zu empfehlen. Bedeutend interessanter scheint mir allerdings die Idee zu sein, die Fläche als Experimentierfeld zu behalten und zu beobachten, was sich verändert. Gegen das Jäten von Berufkraut, Brennnesseln oder Quecke spricht natürlich nichts. Als Weiterentwicklung dieses Gedankens sollen nun im kommenden März alte und vom Aussterben bedrohte Zierpflanzen ausgesät und dann in Reih und Glied in den Rehm-Garten gepflanzt werden. Von dort sollen sie sich in den umliegenden Gärten ausbreiten. Hier liegt ein weiterer Vorteil von Schrebergärten. Aufgrund des manchmal lästigen Kleingartengesetzes gibt es hier vergleichsweise viel offene Fläche, die dann mit Gemüse bepflanzt werden muss. Hier eröffnet sich die Chance, dass zwischen Salat, Kartoffeln und Brokkoli hier und da Rote Melde, Wilde Möhre, einjähriger Phlox und vieles andere wächst.

Ein richtig gutes Ende findet diese Geschichte nun mit dem Hinweis, dass im Museum der Gartenkultur auf der Jungviehweide ein ganzes Arsenal in Frage kommender Pflanze angeboten wird und ich mich hier für die kommende Saison eindecken kann. Der Gartenrittersporn ist auch darunter – aber davon haben wir ja genug. Und auch von etwaigen Rudbeckien werde ich die Finger lassen. Da reichen die Sorten, die noch auf ihre Bestimmung warten.

 

Stefan Leppert
Der Buchautor, Journalist und Übersetzer Stefan Leppert versorgt uns »Nachrichten aus dem Schrebergarten«, denn er gärtnert nicht nur in einer sehr besonderen Kleingartenanlage.
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Text und Fotos: Stefan Leppert