Krautflur II – eine Elegie
Ein Beitrag von Ludwig FischerNun muss ich hier, gegen alle Gewohnheiten im Gartenmagazin, ein Klagelied anstimmen, eine Elegie (altgriech. ’élegos = Trauergesang, Klagelied), einen von Trauer grundierten Text über etwas, das dahingegangen ist.
Im Sommer letzten Jahres hatte ich über die wildwachsende, reizvolle Krautflur berichtet, die sich am Bach hinter dem Hof, auf dem wir uns eingemietet haben, unter den hohen Eichen, Erlen und Eschen erstreckte, ein dichter, bunt gemischter Teppich aus verschiedenen, natürlich angesiedelten Bodendeckern. Darunter auch der Gamander-Ehrenpreis (Veronica chamaedrys), im sogenannten Volksmund auch als Männertreu, Frauenbiss, Katzenäuglein oder Gewitterblümchen bekannt. Dieses zarte, halb niederliegende Pflänzchen ist nicht selten, wird aber in unseren ausgeräumten Landschaften, in denen Feldraine, wilde Waldränder und Gebüsche, ungestörte Wiesen und eben vielfältige Krautfluren immer weniger geduldet werden, immer stärker zurückgedrängt.
Ich war deshalb tatsächlich ein wenig beglückt, als ich die leuchtenden, ganz zart weiß geränderten Blüten in dem durchmischten Bodenbewuchs nahe dem Bach bestaunte. Ich sagte mir: Es gibt sie also noch, die freudigen kleinen Überraschungen in den immer weiter schwindenden Naturbeständen, trotz ungehemmt galoppierendem Artenschwund, den wir, nicht nur mit der industrialisierten Landwirtschaft, den Mitgeschöpfen antun. Und ich nahm mir vor, im nächsten Frühjahr das Aufwachsen der schönen, sich selbst regulierenden Krautflur unter den knospenden Bäumen genau zu beobachten, um das Erscheinen der ersten Männertreu-Blüten nicht zu verpassen.
Daraus wird nichts. Im Sommer wurde der Hof, durch dessen restauriertes, uraltes Fachwerkhaus wir in das angrenzende Wohnhaus gelangen – einen sehr schönen Backsteinbau aus dem Kaiserreich –, an neue Eigentümer verkauft, eine große Tief- und Hochbaufirma führt nun das Regiment. Was genau die Übernehmer mit dem historisch bedeutenden Gehöft vorhaben, ist immer noch nicht so recht klar, aber es herrscht längst Geschäftigkeit.
Einige Wochen nach dem Laubfall rückten »Baumpfleger« an, Angestellte des bekanntesten Garten- und Landschaftsbau-Unternehmens in der Region. Sie begannen, die hohen, sicher über 150 Jahre alten Eichen vor unseren Fenstern zu beschneiden, nicht nur tote Äste herauszunehmen und weit überhängende zu kürzen. Es wurden auch an den zumeist gerade in die Höhe gewachsenen Bäumen die kleinen seitlichen Triebe und selbst stärkere Äste bis in eine Höhe von sechs, sieben, acht Metern rigoros weggeschnitten, so dass nun die Stämme wie glatte Säulen vor uns stehen, erst weit oben ihre ausladenden Kronen ausbreiten.
Als ich den Vormann der Operateure fragte, weshalb man so verfahre, meinte er, das sehe doch schön sauber aus. Und als ich dann vorbrachte, eine frei wachsende Eiche forme doch ein gänzlich anderes Bild, mit einem mächtigen, weit spannenden Astwerk schon in mittlerer Höhe, das auch den Stamm beschattet, antwortete er nur, Eichen bräuchten das nicht, Buchen schon.
Nun muss man wissen, dass es bis zum Ende des Fachwerk-Zeitalters, also bis etwa zum Beginn des 20. Jahrhunderts, auf den großen Höfen der Norddeutschen Tiefebene eine ungeschriebene Regel gab: Wenn ein neues Haus gebaut wurde – für die imposantesten wurden sechzig, siebzig oder noch mehr starke Eichen gebraucht – musste der Bauern auf einem Teil des Hofgrundstücks eine größere Zahl neuer Eichensetzlinge pflanzen, damit spätere Generationen wieder Bauholz zur Verfügung hatten. Die frischen Eichen wurden eng beieinander gesetzt, damit sie sich in die Höhe trieben und schlanke, gerade Stämme ausbildeten. Seitenäste wurden bis hoch hinauf entfernt.
Die heutigen »Baumpfleger« könnten sich also auf diese Tradition berufen, wenn sie in gleicher Weise die Eichbäume bis in ziemlich große Höhe entasten. Man müsste dies aber nicht mehr tun, sondern könnte auch einige wenige Eichen sich ziemlich frei entwickeln lassen.
Der Sägetrupp auf unserem Hof verfuhr aber auf die geschilderte Weise, die Bäume zu »Schopfeichen« zurechtzuschneiden, auch mit dem Bestand auf dem hinteren Teil des sehr großen Grundstücks, zum Bach hin, in dem lange sich selbst überlassenen Bereich mit der Krautflur. Nicht genug damit: An vielen der stattlichen Bäume war Efeu hochgeklettert, manchmal bis auf halbe Höhe. An sämtlichen Stämmen wurden die Haupttriebe der immergrünen Kletterer auf Brust- oder Kopfhöhe durchgetrennt, das untere Stück weggerissen – so, als müsse man eine Schmarotzerpflanze bekämpfen, die den Wirtsbaum aussaugt. Jedes Schulkind kann wissen, dass der Kletterkünstler Efeu den Baum als Stütze benutzt, aber ihm nichts ›tut‹. Selbst sehr üppiger Efeubehang schadet kräftigen Wirtsbäumen nicht.
Nun sind die Unterschlupf- und Nistmöglichkeiten für viele Vögel – Baumläufer, Kleiber, Meisen, manchmal auch Drosseln, Buch- und Grünfinken, Grasmücken, Heckenbraunelle, Zaunkönig – und für Kleinsäuger wie Siebenschläfer oder Eichhörnchen beseitigt. Von all den Bienen, Wespen, Käfern und anderen Kleintieren einmal ganz abgesehen. Das war aber erst der Anfang der »Säuberung«. Die GaLa-Truppe begann nämlich, zwischen den Bäumen und am Rand unserer großen Blühstreifen-Wiese sämtliche Sträucher, Büsche und Jungbäume abzusägen und wegzuhacken: Ilex, Hasel, Schneebeere, Hundsrose, Hartriegel, Eberesche und andere. Innerhalb von zwei Tagen war der gesamte, reiche und vielgestaltige Unterwuchs vernichtet, nackter, zerwühlter Boden mit ein paar abgesägten Strauchtrieben blieb zurück. Damit waren nun auch die Versteck- und Bruthabitate der inzwischen seltenen Vogelarten entfernt, die ich immer wieder erfreut im weitläufigen Gartengelände beobachtet hatte: Zilpzalp, Fitis, Trauerfliegenschnäpper, Gartenrotschwanz, Zaungrasmücke, Wacholderdrossel und weitere.
Danach kamen übrigens die Tiefbauer, die breite, ausgreifende Fahrbahnen mit Folienunterlage und festgewalzter Schotterschüttung nicht nur an den Baumquartieren entlang, sondern auch in einigen Lücken anlegen, mit großem Maschinenpark und tagelangem Lärm. Wenn die Walzen hin- und herfuhren, zitterte unser Wohnhaus.
Als der Kahlschlag beendet war, dachte ich, wenigstens die Krautflur im lichten Baumbestand nahe dem Bach habe überlebt. Weit gefehlt: In den letzten Tagen sind weitere a-Arbeiter angerückt, die nun mit Baggern und Radladern auch noch die Humusdecke zwischen den Bäumen wegschaben und damit auch den malträtierten Rest des einst bezaubernden Bewuchses abtransportieren – in großen Containern. Bis unmittelbar an das Bachufer ist alles abgeräumt.
Ich konnte denn doch nicht an mich halten und fragte einen der Vorarbeiter, was denn diese Vernichtungsaktion bezwecke. Er erwiderte, dass sie ja nur Aufträge ausführten. Und er verstehe schon, dass man auch eine andere Sicht auf die Vorgänge haben könne. Aber ich müsse mir keine Sorgen machen, das werde alles wieder hergerichtet und wunderbar bepflanzt. Bestimmt nicht mit Kirschlorbeer!
Da erinnerte ich mich daran, dass der von der Firma eingesetzte Verwalter mir einmal erklärt hatte, es müsse alles »schier« werden (norddeutsch für »sauber, ordentlich, blank«), möglichst überall Englischer Rasen. Und einem Nachbarn soll jemand von der Firma vorgeschwärmt haben, man werde alles schöner machen. Ich mag mir das bis in den letzten Winkel »gepflegte« Gelände gar nicht vorstellen, von den Pflegearbeiten mit großem Mähtraktor, Kettensäge, Freischneider und Kehrwalze im vergangenen Jahr habe ich noch jetzt genug.
Ich bringe inzwischen gar keinen Zorn mehr auf, nur noch Trauer und einen gewissen Ingrimm. Und ich muss mir sagen lassen: Was regst du dich auf? Es ist doch das Übliche, geschieht täglich tausendfach, so geht man bei uns halt mit dem um, was wir »Natur« nennen. Wer versteht denn, was er da tut? Die Leute haben keine Ahnung von dem, was sie anrichten, aber sie haben das Geld, es in Auftrag zu geben. Du handelst dir nur Ärger ein, wenn du etwas sagst. Und es sind doch nur ein paar hundert Quadratmeter Wildwuchs, nicht der Rede wert. Die Krautflur ist weg, hake es ab, sie gehörte dir ja ohnehin nicht.
Als ob man etwas besitzen müsste, um sich daran zu freuen und über den Verlust traurig zu werden! Aber in Rachel Carsons Buch »Stummer Frühling« habe ich gelernt, welche Energien eine nüchterne, klarsichtige Trauer freisetzen kann. Ich werde auch wieder Texte schreiben von guten Erfahrungen, stärkenden Begegnungen, unvermuteten Entdeckungen »im Grünen«. Und vielleicht fange ich tatsächlich noch einmal an, anderswo einen Garten anzulegen, bei dem ich all die natürlichen Akteure bitte, mir zu helfen, das Richtige zu tun.
Zum Weiterlesen: Rachel Carson: Der stumme Frühling, Verlag C.H. Beck
Text und Fotos: Ludwig Fischer