Krautflur? Krautflur!
Ein Beitrag von Ludwig FischerSchattenpartien gelten – außer bei den für Hosta Begeisterten – gemeinhin als ›Problemzonen‹ im attraktiven Garten, weil so viele prunkende Blütenpflanzen es eher sonnig mögen. Und weil flächiger Schatten – außer bei sehr dichter Bebauung – meistens auch heißt, dass die Schattenspender im Herbst viel Laub abwerfen, das dann, so denken viele, mühsam beseitigt werden muss. In dem von alten, hohen Eichen umstandenen kleinen Wohngebiet, in dem meine Eltern ihr Häuschen bauen durften, ließen einige der Nachbarn die ehrwürdigen, ausladenden Bäume fällen, obwohl es verboten war. Die Nachteile durch den starken Laubfall und die Gefährdung durch womöglich abbrechende Äste seien unzumutbar.
Jetzt aber scheint sich im wahrsten Sinn des Wortes das Blatt für die lebenden Schattengaranten zu wenden: In zahlreichen Städten versucht man, möglichst viele Bäume an Straßen und auf Plätzen groß werden zu lassen, damit die innerstädtischen Temperaturen auch in Hitzeperioden nicht ins Unerträgliche steigen. Und die Agroforst-Projekte in der Landwirtschaft mehren sich: Man baut Getreide, Gemüse und andere Nutzpflanzen zwischen Baumreihen an, weil in den zumindest teilweise beschatteten Streifen der Boden weniger austrocknet während der immer häufiger auftretenden Dürrezeiten und weil das Wurzelwerk der Bäume das Bodenleben stark befördert.
Schatten oder zumindest Halbschatten wird auch in den Gärten zur begehrten »Ressource« werden, das lehren uns die menschengemachten Klimaveränderungen unerbittlich. Was aber könnte das für die Gestaltung unserer Gärten bedeuten – abgesehen von einem weiter ansteigenden Hosta-Boom? So wie wir in gesunden, »naturbelassenen« Wäldern begreifen, dass wir nur genau genug hinschauen und nachfühlen müssen, wie natürliche Abfederung der Klimawandelfolgen geht, so brauchen wir nur nach »wilden«, möglichst ungestörten Schattenpartien in lichten Laubwäldern und an deren Rändern zu suchen, um Inspiration für verschattete Areale in unseren Gärten zu bekommen.
Hinter dem großen Grundstück des Hofs, in den wir uns eingemietet haben, fließt ein kleiner Bach. Im Sommer trocknet er manchmal aus, in Herbst und Winter kann er gelegentlich über seine Ufer treten. Sein Lauf ist fast durchgehend unter Landschaftsschutz gestellt, hohe Erlen, Eschen und Eichen stehen an den Uferstreifen, und über weite Strecken begleiten kleine »Brooks« (schmale Streifen von Bruchwäldern) das bescheidene Gewässer. Die Baumbestände sind also »licht«, lassen viel Helligkeit bis zum Boden durch.
Gleich bei der Brücke hinter dem Hof findet man von der Uferkante bis zum Rand der bewirtschafteten Flächen völlig unbearbeiteten Bodenbewuchs unter den Bäumen: wunderbare, ungestörte Krautfluren, die keinen Quadratzentimeter nackter Erde zeigen. Es sind abwechslungsreiche, meistens durchmischte Teppiche von niedrigen Stauden mit vielen Frühlingsblühern: Buschwindröschen (Anemone nemorosa), Vergissmeinnicht (Myosotis arvensis oder sylvatica), Scharbockskraut (Ficaria verna), Himmelsschlüssel (Primula veris), auch geschlossene Flächen von Zweiblatt (Maianthemum bifolium) oder lockere Bestände von Großer Sternmiere (Rabelera oder Stellaria holostea) oder Geflechte von Gundermann (Glechoma hederacea). Manche Arten ziehen im Mai oder Juni ein und überlassen dann den Platz dem Reiherschnabel (Erodium cicutarium) oder auch dem Kleinen Springkraut (Impatiens parviflora).
An anderen Stellen ist die niedrige Staudenflur durchzogen von Efeuranken (Hedera helix) und eingemischten Giersch-Blättern (Aegopodium podagraria) – auf den ziemlich mageren, eher sandigen Böden in unserer Gegend wuchert der gefürchtete Bodendecker nicht so leicht.
In diesem Frühjahr entdeckte ich verstreute, schöne blaue Blüten einer halb niederliegenden, kleinen Staude, die kein Vergissmeinnicht sein konnte, in einer sehr stark durchmischten Krautflur nahe am Bach. Ich musste das Bestimmungsbuch zu Rate ziehen: Gamander-Ehrenpreis (Veronica chamaedrys), auch Männertreu oder Frauenbiss (!) genannt, eine alte Heilpflanze, mit der auf mehreren alten Holzstichen der berühmte Arzt und Botaniker Leonhart Fuchs (1501 – 1566) abgebildet ist.
Die wunderbaren, abwechslungsreichen, geschlossenen Teppiche von niedrigen Wildstauden und ein paar Einjährigen können ein Vorbild sein für die Bepflanzung von lichten Schattenparten auch in unseren Gärten – wenn man es denn begrüßt, dass nicht überall eine akkurate »Ordnung« im Bewuchs herrscht: Die Standorte einzelner Pflanzentuffs können auch einmal wechseln, die Durchsetzungskraft einiger Bodendecker kann sich verändern. Und nicht immer prangt die Krautflur mit einem Blütenflor – was für das aufmerksame Auge die Attraktivität nicht mindern muss. Denn diese mehr oder weniger wilden Pflanzengesellschaften verändern sich im Lauf des Jahres, unterschiedliche Arten treten zu verschiedenen Zeiten mit Blüten und Blattbeständen hervor.
Wer eine solche »naturnahe« Krautflur im lichten Schatten des Gartens anlegt, tut einerseits sich selbst etwas Gutes: Wenn man die landschaftlich und der Benachbarung nach passenden Pflanzen auswählt, also ökologisch klug verfährt, hat man bald in diesen Partien kaum noch Arbeit. Denn wenn die niedrige Pflanzendecke einmal geschlossen ist, haben sich einstellende unerwünschte Gäste kaum eine Chance. Und andererseits begünstigt man auch die anderen Lebewesen im Garten, die Käfer, Ameisen, Spinnen, Schnaken, Falter, nicht zuletzt die Bodenbewohner. Denn wo durch abfallende Blätter und Blüten ständig eine »Streu« am Grund der Krautflur entsteht, ist die Nahrung nicht nur für sehr viele Regenwürmer gesichert, sondern auch für unzählige Milben und andere Kerbtiere. Mit anderen Worten: Eine natürliche Humusbildung geht vonstatten, es muss nie gedüngt oder – außer in absoluten Extremsituationen – bewässert werden. Das grüne Bodenkleid unter den Bäumen bei unserem Hof hat auch in den Dürresommern und Hitzemonaten der vergangenen Jahre nicht ernstlich gelitten.
Und wem die bezaubernde, sich weitgehend selbst regulierende Pflanzendecke unter Gartenbäumen ästhetisch denn doch nicht genügt, der findet in guten Gärtnereien mit einem Sortiment robuster, möglichst einheimischer Schattenstauden leicht ein paar blühende, halbhohe oder hohe »Glanzlichter« oder auch dekorative Farne und Gräser, die zur Gemeinschaft der Bodendecker passen. Entscheidend ist aber, dass die Krautflur – als geschlossenes pflanzliches »Fell« des Bodens – zu einem Mikroklima und einer Bodenbeschaffenheit beiträgt, die auch in Zeiten von vermehrten Extremwetterlagen den Garten lebendig erhalten. Dass man so den natürlichen »Mitspielern« im Garten ein wenig Eigenwillen zugesteht und nicht alles herrisch anordnet und trimmt, hat seinen besonderen Reiz im Wechselspiel der Beteiligten – und führt uns vor Augen, dass es in unserem gesellschaftlichen Naturverhältnis auch anders zugehen könnte.
Text und Fotos: Ludwig Fischer